„Anreger der Theologie der Neuzeit“

Prof. Christoph Levin würdigt Werk des Herrnhut-Gründers Graf Zinzendorf

Pfarrer Burkhard Krebber (stv. Vorsitzender der Lippischen Bibelgesellschaft), Professor Christoph Levin und Landessuperintendent Dr. Martin Dutzmann (Vorsitzender der Bibelgesellschaft, von links) mit der 281. Ausgabe (2011) und einem Nachdruck der 1. Ausgabe (1731) der Herrnhuter Losungen.

Kreis Lippe/Lemgo. Die Herrnhuter Losungen werden weltweit in rund 50 Sprachen in mehr als 100 Ländern gelesen. In Deutschland erscheinen sie jährlich in einer Auflage von rund einer Million Exemplaren und haben sich zum stillen Bestseller des christlichen Buchhandels entwickelt. Aus Anlass des 250. Todesjahres des „Erfinders“ der Losungen, Nikolaus Graf von Zinzendorf (1700-1760), sprach Professor Christoph Levin (München) auf dem Bibeltag der Lippischen Bibelgesellschaft am Sonntag, 31. Oktober, in der ev.-ref. Kirche St. Pauli in Lemgo über Zinzendorf und sein Lebenswerk.

Graf von Zinzendorf hatte 1722 auf seinem Gut im sächsischen Herrnhut evangelischen Glaubensflüchtlingen aus Böhmen und Mähren Zuflucht gewährt. Daraus entwickelte sich die Herrnhuter Brüdergemeine. Professor Levin berichtete von Zinzendorfs Anliegen, die in Herrnhut lebenden Christen unterschiedlicher Frömmigkeitsstile und Prägungen konfessionsübergreifend an den sie einenden Glauben zu erinnern. Deshalb habe er seit 1728 täglich ein Bibelwort oder einen Gebetsvers als „Losung“ für den kommenden Tag ausgerufen, damit die Gemeindeglieder über Gottes Wort miteinander ins Gespräch kommen und ihren Glauben in der Gemeinschaft erfahren. 1731 stellte Zinzendorf erstmals in einem „Losungsbuch“ für jeden Tag ein Bibelwort und einen Glaubensvers zusammen. Ausgelost wurden die Losungen zu dieser Zeit noch nicht. Diese Praxis wurde erst 1764 eingeführt, vier Jahre nach Zinzendorfs Tod. Levin referierte, dass die Losungen seit 1969 in ihrer heutigen Form erscheinen: Jedem ausgelosten alttestamentlichen Vers (Losung) werden ein passendes Wort aus dem Neuen Testament (Lehrtext) sowie ein „dritter Text“ (Gebet oder Liedvers) zugeordnet. Über das Losungsspruchgut, also die gut 1.800 Verse umfassende Sammlung alttestamentlicher Bibeltexte, sowie über die zugeordneten Lehrtexte und Gebete entscheidet unter theologischen und sprachlichen Gesichtspunkten ein von der Direktion der Herrnhuter Brüdergemeine berufener Ausschuss, dem Professor Christoph Levin angehört.
Das Herauslösen der alttestamentlichen Verse aus ihrem historischen und inhaltlichen Zusammenhang soll die Leser der Losungen anregen, die alten Bibelworte in die jeweilige Gegenwart hinein zu übersetzen, erklärte Prof. Levin. Dem Auswahlausschuss stelle sich dabei die Aufgabe, aus einem fortlaufenden Text ein Zitat auszuwählen, das als pointierter Teil für das Ganze stehe. Dadurch werde eine Losung verallgemeinerbar. Levin: „Die Zitate springen aus ihrer Entstehungszeit heraus und sprechen als Losung nicht nur den einzelnen Leser oder die einzelne Leserin an, sondern die Gemeinde Jesu Christi.“ Das Wort Gottes verbinde über alle Grenzen hinweg. Zugleich würden die Losungen den Gedanken Zinzendorfs umsetzen, dass es kein Christentum ohne Gemeinschaft gebe. Die zugeordneten neutestamentlichen Lehrtexte verdeutlichten, dass das Verständnis des Neuen Testaments auf Kenntnisse des Alten Testaments angewiesen sei.
Aus heutiger Sicht müsse man Zinzendorf als ökumenisch denkenden Menschen und als einen „Anreger der Theologie der Neuzeit“ begreifen, wertete Prof. Levin die historische Bedeutung des Gründers der Herrnhuter Brüdergemeine. Mit seinem Verständnis von der unsichtbaren aber ewigen Gegenwart Jesu Christi als dem Auferstandenen habe Zinzendorf Christen aller Konfessionen wie auch Juden und Muslime erreichen wollen. Zinzendorfs Lebenswerk sei am besten zu verstehen als „missionarische Bewegung mit atemberaubender ökumenischer Breite“.


03.11.2010