Archiv 2005 - 2001

10.12.2001

Wenn Religion und Nation sich vermischen

Pressemitteilung: Rumänien steht im Mittelpunkt des Weltgebetstages 2002

- -
   
Die orthodoxe Kirche ist in Rumänien allgegenwärtig: Gottesdienst in Petrosani.

Die vielfältigen Landschaften, die oft verworrene Geschichte, die schwierige Gegenwart – Melchert, der als früherer Mitarbeiter der Ökumeneabteilung im Landeskirchenamt oft in Siebenbürgen war, gab in einem kenntnisreichen Vortrag eine Fülle von Informationen über ein Land, das uns nahe und fern zugleich ist. Die siebenhundertjährige Kultur der Deutschen in Siebenbürgen und im Banat ist heute nur noch in Resten vorhanden. Nach dem Sturz des Ceausescu-Regimes kamen erschütternde Bilder von dahinvegetierenden Heimkindern an die Öffentlichkeit, die eine Welle von Hilfsmaßnahmen auslösten. Aus vielen sind Sozialwerke entstanden, die heute vorbildliche Behindertenarbeit leisten.
Die heutige Republik Rumänien besteht außer dem siebenbürgischen Kernland auch aus der Walachei – dort liegt die Hauptstadt Bukarest -, der Dobrudscha, der Bukowina und der Moldauregion. Jedes dieser Gebiete hat nicht nur sein eigenes landschaftliches Gesicht, sondern auch seine eigene Geschichte, Kultur und Identität. Regional unterschiedlich wurden sie geprägt von Römern, Ungarn, deutschen Siedlern, Osmanen, moldauischen und walachischen Fürsten, Österreichern, später Faschisten, sowjetischen Besatzern, ab 1974 und bis heute deutlich sichtbar von der neostalinistischen Diktatur des Nicolae Ceausescu. Die rumänische Geschichtsschreibung sei ein Meister im Verfälschen, sagte Matthias Melchert: „Sämtliche großen historischen Ereignisse, die jemals auf dem Gebiet des heutigen Rumänien stattfanden, müssen natürlich von Rumänen vollbracht worden sein.“ In Siebenbürgen, das über Jahrhunderte zum Königreich Ungarn gehörte, sei das natürlich besonders schwer. Fast alle Orte haben hier einen ungarischen, einen deutschen und einen rumänischen Namen.
Der Referent gab eine Chronologie jener dramatischen Ereignisse vom Dezember 1989, als der Diktator gestürzt wurde. Ein Zentrum dieser Revolution war die Stadt Temesvar, wo der evangelisch-reformierte Bischof László Tökes eine wichtige Rolle spielte. Als „staatstragend“ versteht sich heute die rumänisch-orthodoxe Kirche, mit über 20 Millionen Mitgliedern – das Land hat 22,3 Millionen Einwohner - die zweitgrößte orthodoxe Kirche der Welt. Sie ist ein wesentlicher Faktor des rumänischen Nationalismus. Seit der Reformation des 16. Jahrhunderts gibt es in Siebenbürgen auch evangelische Christen. Zu einem der beiden Kirchendistrikte, in welche die 800.000 Reformierten ungarischer Muttersprache gegliedert sind, pflegt die Lippische Landeskirche seit vielen Jahren eine Partnerschaft. Weiter finden sich die lutherische Kirche der Siebenbürger Sachsen, deren Mitglieder heute zum größten Teil nach Deutschland ausgewandert sind, die ungarische lutherische Kirche und die ebenfalls ungarischsprachige unitarische Kirche.
Wirtschaft und Landwirtschaft des Landes, das einst als „Kornkammer Europas“ galt, liegen am Boden. Industrielle Großprojekte der kommunistischen Zeit, deren viele inzwischen stillgelegt sind, haben zu einer gigantischen Verschmutzung von Luft, Wasser und Boden geführt. „Wie kaum anderswo in Osteuropa erlebt man das Nebeneinander einer entstehenden Marktwirtschaft und fortexistierender sozialistischer Ideale so hautnah“, berichtete Melchert. Wie verbreitet Korruption und Wirtschaftskriminalität sind, illustriert die Tatsache, dass die rumänische Sprache zahlreiche Wörter für „Schmiergeld“ kennt.

  • Twitter
  • Facebook
  • Google Bookmarks
  • Windows Live